Ayurveda & Kalari - Was ist das?
- Markus Ludwig

- 11. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. Juli

Ayurveda & Kalari – zwei Wege, ein Erfahrungsfeld
In diesem Blogbeitrag beschreibe ich, was sich für mich hinter den Begriffen Ayurveda und Kalari verbirgt – nicht nur theoretisch, sondern aus Sicht gelebter Praxis. Beide Systeme entspringen uralten indischen Traditionen, wurden aber auf sehr unterschiedliche Weise überliefert. Sie bieten uns heute tiefe Einsichten in körperliches Erleben, Regeneration, Heilung und geistige Ausrichtung.
Was mich seit Jahren fasziniert: Die Verbindung dieser beiden Wege – das strukturierte Denken des Ayurveda mit der unmittelbaren Erfahrungsweisheit des Kalari. Genau hier beginnt auch unsere tägliche Arbeit – und von hier aus wollen wir in weiteren Beiträgen einzelne Themen wie Kraft und Regeneration, Konzentration und Gedächtnis, Schlaf und innere Ruhe näher beleuchten. Dort sprechen wir auch über therapeutische Anwendungen, aktuelle Forschung und erprobte Kombinationen aus klassischer Heilkunst und moderner Praxis.
Ayurveda - was ist das?
Ayurveda… Was kommt einem da in den Sinn? Meistens wohl Wellness-Anwendungen, bei denen Öl über den Kopf gegossen wird. Oder lange Listen von Medikamenten, die medial regelmäßig in den Ruf geraten, kleine Schwermetallbomben zu sein. Manchmal ist es auch eine Flut von Büchern mit Tests zur eigenen Konstitutionsbestimmung und daraus resultierenden Einkaufslisten oder Fachbücher, die diese völlig andere Denk- und Sichtweise des Menschen abstrakt in Tabellen und Fremdwörtern darzustellen versuchen.
Mehr als nur Wellness: Das Fundament des Ayurveda
Das klassische Ayurveda-Wissen ist tatsächlich so umfangreich, dass es den Arzt zu lehren wüsste, wie er die Menschen seiner Gemeinschaft bei Gesundheit hält – idealerweise, bevor sie überhaupt krank werden. (Indem er in der Konstitution und den Lebensumständen des Einzelnen krankmachende Tendenzen erkennt und mit vorbeugenden Maßnahmen begegnet.) So eine individuelle Betreuung war aber auch in einer romantisch-verklärten alten Zeit überwiegend sehr hohen Herrschaften vorenthalten. Aber schon in frühen Epochen, wie z. B. unter Kaiser Ashoka, gab es Krankenhäuser und Universitäten, in denen Ayurveda in all seinen Facetten, von der Kinderheilkunde, Inneren Medizin, Chirurgie bis zur Psychotherapie praktiziert und gelehrt wurde. Kräuterheilkunde, Diätetik und manuelle Anwendungen waren nicht nur in der Vorsorge, sondern auch in der Behandlung schwerer Erkrankungen wesentliche Pfeiler.
Aber auch für den Ayurveda war die Kolonialzeit eine Zeit der Unterdrückung, in der Universitäten und Krankenhäuser geschlossen wurden. Im Gegensatz zum Kalari, dessen Ursprung ebenfalls in Südindien liegt [1], existiert im Ayurveda jedoch eine Vielzahl klassischer Literatur. Und auch wenn das Praktizieren unterdrückt wurde, war es jedoch nicht drakonisch bestraft. So fiel die Rückbesinnung auf den Ayurveda deutlich leichter; das Fundament war stabil und ordentlich bis ins Detail strukturiert. Jetzt musste man nur noch wieder „ayurvedisch denken“ lernen.
Zwischen Theorie und gelebter Praxis
Wobei das noch lange nicht bedeutet, nur wer Inder ist und viel Sanskrit auswendig gelernt hat, beherrscht dies wirklich. Ich habe in Indien einige Ayurveda-Ärzte und sogar den Chefarzt eines Ayurveda-Hospitals getroffen, die von ihrer Denkweise beeindruckend modern-westlich schulmedizinisch waren – nur, dass ihre Tabletten eben Pflanzen enthielten. Dem Potenzial des Ayurveda wird dies meiner Ansicht jedoch nicht gerecht. Der Ayurveda beschreibt zwar ein sehr umfassendes Theoriegerüst, das ein Arzt lernen muss. Entscheidend ist aber die Persönlichkeit und Denkweise, mit der dieses Wissen am lebendig-dynamischen, vielschichtigen Patienten verstanden und angewandt wird.
Mein persönlicher Weg zum Ayurveda
Ich bin kein studierter Ayurveda-Arzt. Doch der Ayurveda war von Anfang meiner Lehre an präsent. Es ging anfangs darum, unsere eigene Konstitution zu verstehen, um die Gesundheitspflege, Ernährung und Hygieneroutinen darauf abzustimmen. Mein intensives Interesse für Therapie hat mich zum begleitenden Unterricht bei verschiedenen praktizierenden Ayurveda-Ärzten geführt. Mein Wissen bzw. meine Einsichten im Ayurveda beziehen sich hauptsächlich auf die in unserer Kalari-Praxis relevanten Elemente – so kenne ich mich z. B. nur mit den Pflanzen und Präparaten aus, mit denen wir tatsächlich arbeiten –, und so verhält es sich insgesamt mit den Bereichen des Ayurveda. In den letzten 15 Jahren haben wir gemeinsam mit verschiedenen Ayurveda-Ärzten Kuren durchgeführt und auch so beständig mehr ayurvedische Anwendungen in unsere Kalari-Kuren integriert.
Ayurveda heute: Authentizität statt Import
Dennoch entdecke ich immer noch Neues oder Varianten von Alt-Bekanntem, ob bei Präparaten, Zubereitungen, Empfehlungen oder Maßnahmen. Obwohl ich schon vor meiner ersten Indienreise fasziniert und begeistert vom Ayurveda war, ist dies nach nun über 20 Jahren ungebrochen und wächst immer noch. Gleichzeitig wurde mir aber auch bewusst, dass nicht alles, was für den Menschen bzw. die Umstände vor einigen Jahrhunderten gültig war, noch heute gültig ist. Und trotz all meiner oft beeindruckenden Erfahrungen mit den indisch-ayurvedischen Mitteln bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass wir den Ayurveda nicht nur auf unsere Zeit und Umstände übersetzen müssen, sondern z. B. auch für die verwendeten Mittel im wachsendem Maße Ersatz in unserer heimischen Pflanzenwelt finden sollten. Ayurveda authentisch anwenden, bedeutet meines Erachtens nicht, alles aus Indien zu importieren, sondern das System und dessen Einsichten zu verstehen und mit den Möglichkeiten um uns herum anzufüllen.
Kalari - was ist das?
Kalari… ein kurzes Wort mit viel Inhalt und sehr unterschiedlichen Deutungen. Wird ein aus Kerala stammender Inder nach „Kalari“ befragt, könnte er antworten, dass er es eine Regenzeit lang in seiner Jugend trainiert oder zumindest mal eine Vorführung gesehen hat. Viele verstehen diese südindische Kunst als ein Trainingsprogramm für die körperliche und geistige Fitness, das alte kulturelle Wurzeln hat.#
Verlust und Wiedergeburt einer Tradition
Wieder andere denken an die Kalari-Krieger, die das Kalarippayat – die Kampfkunst – trainierten, um in vergangener Zeit zu beschützen oder sich zu duellieren. Während der englischen Kolonialzeit wurden die Kalaris als Ausbildungsorte für Krieger nachvollziehbarerweise geschlossen und die Ausübung der Kampfkunst mit drakonischen Strafen geahndet.
Die Kalari-Tradition lebte zum großen Teil von der mündlichen Überlieferung und dem Erfahren der Lehrinhalte durch das praktische Training – dem Kalari Abhyasam. Durch die strikte Unterdrückung der englischen Kolonialherren über mehrere Generationen wurde aus der Praxiserfahrung jedoch oft nur noch eine theoretische Erzählung oder das Wissen ging gänzlich verloren.
Ein Name, viele Wege: Die Zersplitterung des Wissens
In den letzten 20 Jahren sind im Ursprungsland Kerala zwar wieder verschiedene Kalaris wie Pilze aus dem Boden geschossen, dennoch bleibt es eine Tatsache, dass viel Wissen verloren gegangen ist. Die Erfahrungen, die der Kalari-Weg mit sich bringt, müssen oft erst wieder neu erlangt und gesammelt werden. Aus verschiedenen, zum Teil auch traditionellen Gründen, fällt es den indischen Kalari-Lehrern zudem schwer, ihr vorhandenes Wissen offen auszutauschen. So könnte sich die ganze Vielschichtigkeit und Tiefe des Kalari-Weges nur schwer in einem einheitlichen Ganzen darstellen.
Obwohl sich einige Linien von Kalari-Lehrern zusammengeschlossen haben, besitzen sie meiner Erfahrung nach sehr unterschiedliche Schwerpunkte. Viele Kalaris legen ihren Fokus auf das Kalarippayat, die Kampfkunst, und praktizieren diese auf einem Spektrum von bloßer akrobatischer Selbstverteidigung bis hin zum selteneren, spirituell erfüllten Weg des Kriegers. Andere wiederum beschäftigen sich intensiv mit der Kalari- oder Marma-Chikitsa, der Therapie, die von der reinen Behandlung von Gelenkbeschwerden bis zu einer ganzheitlichen, intensiven Herangehensweise reicht. Wieder andere beziehen die musischen Künste mit ein.
Meiner Beobachtung nach gibt es bei den unterschiedlichen Lehrern die verschiedensten Qualitäten, was Tiefe und Verständnis des Kalari-Wissens angeht. Diese hängen nicht unbedingt mit der nach außen sichtbaren Größe oder Wirkung eines Kalaris zusammen. Die eher stillen Meister, die ganz in sich zu ruhen schienen, waren für mich persönlich die wertvollsten.
Mein Weg: Ein Fluch, der zum Segen wurde
Leider ist es aus traditionellen Gründen normalerweise nicht möglich, Schüler in unterschiedlichen Kalaris zu sein. Auch wenn ich es damals nicht als Segen, sondern eher als persönlichen Fluch wahrgenommen hatte, hat mich mein Weg durch drei große Kalari-Linien geführt. Im Nachhinein betrachtet hatte ich so das Glück, verschiedenste Aspekte des Kalari-Wissens erfahren und nun teilen zu dürfen.
Ein grundsätzlicher Unterschied zum Ayurveda:
Das Wissen des Kalari gleicht einem lebendigen, sich stetig wandelnden Dschungel. Selbst mit der besten Landkarte weiß man nie, was einem hinter der nächsten Biegung begegnet. Hier ist eine gereifte, erwachsene Intuition für die Richtungswahl und eine feine Vorahnung nötig.
Das Wissen des Ayurveda hingegen ähnelt einer wohlstrukturierten Großstadt. Ohne den Stadtplan – die innere Logik des Systems – verinnerlicht zu haben, könnte man darin Jahrzehnte umherirren. Versteht man aber die grundlegende Ordnung, kann man sich selbst in unbekannten Vierteln orientieren und deren Funktion erfassen.
Um im Bild zu bleiben: Für den Weg durch den Kalari-Dschungel schult man vor allem seine Wahrnehmung, Reaktion und innere Einstellung. Man lernt, eine Blockade im Körper instinktiv zu erspüren oder auf eine plötzliche Bewegung reflexartig und doch gezielt zu antworten. In der Ayurveda-Großstadt hingegen ist der erste Schritt die verstandesmäßige Einsicht in die Ordnung. Man lernt die Logik der drei Doshas, um damit auch unbekannte Symptome einem klaren Muster zuordnen zu können.
Unser Bestreben ist es, beides zu verbinden: Mit der intuitiven Wahrnehmung des Kalari das klare System des Ayurveda zu betrachten und lebendig zu beschreiben.


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